Wem man so begegnet…

von Michael Krennerich

Bestimmt kennen Sie das! Sie sehen oder treffen einen Menschen und denken: Jooooh, so eine(n) hatten wir auch in der Klasse. Es handelt sich oft nicht einmal um markante Typen, zumal keine, die sich mit flotten Alliterationen einfangen ließen – wie die strebsame Susi, die kesse Kerstin, der stille Stefan oder so ähnlich. Es sind vielmehr einzelne Gesten, ein bestimmter Blick, vielleicht auch nur eine ungewöhnliche Bewegung fremder Menschen, die uns unweigerlich an Mitschülerinnen oder Mitschüler von damals erinnern. Wenn auch nur beiläufig, sahen wir diesen doch jahrelang dabei zu, wie sie sich durch den Schulalltag mühten. So wurden wir allmählich vertraut mit ihren Eigenheiten, ihrer Art, wie sie dösten oder nachdachten, sie still blieben oder groß aufdrehten, auf ihren Stühlen herumrutschten oder in die Pause eilten. Das ganze Programm eben.

Und dann sieht man einen fremden Menschen, wie er beispielsweise beim Sprechen verlegen zu Boden blickt, und die Szene erinnert einen daran, wie in der Mittelstufe Philipp beim Reden einem nie in die Augen sah, wenn er überhaupt etwas von sich gab. Oder man begegnet einem Kollegen, der mit weiten, ausladenden Bewegungen die Tragweite seiner Worte unterstreicht, und einem gehen Bilder von den großspurigen Auftritten des Besserwissers durch den Kopf, der alle in der Klasse nervte. Mir fallen solche Ähnlichkeiten auf.

Zugegeben: Die Gefahr von Vorurteilen ist groß, wenn man von Gesichtszügen, Gesten oder Ähnlichem sogleich auf den Charakter eines Fremden schließt (obschon Miss Marple reihenweise Kriminalfälle löste, weil sie die Täterin an eine Person in ihrer Vergangenheit erinnerte). Ich selbst bin ohnehin gegen Vorurteile gefeit, denn ich fälle stets nur vorläufige Urteile, die ich nach näherer Begutachtung meines Gegenübers jederzeit revidieren kann. Kommt jedoch kaum vor, da ich – das wird Sie wenig überraschen – fast immer richtigliege. Diese unfehlbare Menschenkenntnis habe ich mir im frühen Kindesalter angeeignet, um schon auf den ersten Blick zu erkennen, wer mir eine Tracht Prügel verpassen will und wen man besser meidet.

Mich selbst hat noch niemand auf Ähnlichkeiten mit irgendwelchen Altersgenossen aus seiner Schulzeit angesprochen. Trotz meines Allerweltgesichts bin ich offenbar einzigartig. Glaubte ich zumindest bis vor Kurzem. Dann lief mir auf der Straße ein Kerl über den Weg, der genau so aussah wie ich in meinen Jugendjahren. Selbst der wippende Gang auf den Fußballen war der gleiche. Für einen Moment dachte ich, ich wäre in ein Zeitloch gefallen. Oder, dass die Parallelwelten der String-Theorie wirklich existierten. Dann fragte ich mich, ob ich dem armen Menschen hinterherlaufen und meine Hilfe anbieten sollte.

Ein paar Tipps aus meinem verkorksten Leben hätte ich da schon parat. Etwa die Schönheit sommerlicher Streuwiesen oder die kühle Luft an der See zu genießen und auf keinen Fall deinem Mitschüler Matthias Pelunke dein Fahrrad zu leihen. Er passt nicht darauf auf und bringt es kaputt zurück. Ach ja, und noch ein Ratschlag, der, wenn ich ihn beherzigt hätte, mir die Jugend versüßt hätte. Warte nicht darauf, dass ein Mädchen Dich anspricht, schon gar nicht, wenn Du einen Mittelscheitel trägst und eine schief sitzende Brille. Du musst schon selbst aktiv werden. Mit Humor und eigens zusammengestellten Musikkassetten. Doch diesen unschlagbaren Tipp konnte ich meinem Doppelgänger nicht mehr auf den Weg geben. In seinem jugendlichen Leichtsinn war er bereits um die nächste Straßenecke gebogen. C’est la vie!

Epilog: Hanna meint, nachdem sie die Glosse gelesen hat, das ich dennoch einzigartig sei. So einen wie mich gäbe es wirklich nicht mehr. Wie immer, bin ich mir aber bei Hanna nicht ganz sicher, wie ich das verstehen soll.

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